Der Kindersammler by Sabine Thiesler
Autor:Sabine Thiesler
Die sprache: deu
Format: epub
Wenn Harald den alten Hauke gewaschen und gefüttert hatte, ging er meist noch auf einen Tee hinüber zu Pamela. Das erfuhr Anne jedoch erst, als es schon zu spät und die Affäre schon einige Wochen alt war. Pamela hatte keinen Freund, war viel allein, und die Teestunde mit Harald war für sie eine willkommene Abwechslung. Sie erzählte ihm von ihren letzten Konzerten und von Brahms, Hindemith und Bartok, die sie verehrte. Harald hatte von all dem überhaupt keine Ahnung. Musik kam in seinem Leben nicht vor. Dass er ihr irgendwann bei Blasmusik die langweilige Klein-Lieschen-Bluse aufgeknöpft haben musste, war für Anne heute noch unvorstellbar.
Die Sache flog an einem Oktobernachmittag auf, als der alte Hauke nach seiner Brille greifen wollte und dabei das Milchglas vom Nachtisch stieß, das auf den harten Steinfliesen zerbrach. Er versuchte, die Scherben aufzusammeln, weil er Angst hatte, beim Aufstehen hineinzutreten, dabei wurde ihm schwindlig, und er fiel aus dem Bett.
Unglücklicherweise mit dem Gesicht genau in die Glasscherben. Er hatte zahlreiche und tiefe Schnittwunden, sein Blut tropfte auf Bett und Teppich, und als er aufstand auch auf Tisch und Sessel. Das machte ihm Angst. Er geriet in Panik, verwischte das Blut in seinem Gesicht mit den Händen und sah da nach aus wie ein Zombie, der nach einem Schlachtfest ein Blutbad genommen hat. Er hatte vergessen, wo das Telefon stand, und schleppte sich ans Fenster, wo er an die Scheibe klopfend laut um Hilfe schrie.
Zu dieser Zeit kam Elsa Sörensen am Haus vorbei, die auf dem Weg zu ihren Enkeln war. Sie hütete sie jeden Nachmittag von fünfzehn bis zwanzig Uhr, während ihre Schwiegertochter in Heide in einem Frisiersalon Dauerwellen legte. Ihr Schwiegersohn arbeitete im Zwei-Wochen-Rhythmus auf einer Bohrinsel in der Nordsee.
Elsa erkannte die grässliche Gestalt am Fenster nicht. Sie rannte ins nächste Haus zu den Martinsens, und Frauke Martinsen alarmierte die Polizei. Die Polizisten, die eine Viertelstunde später bei Hanke ankamen und die Tür aufbrachen, erkannten sofort, dass das Ganze schlimmer aussah, als es war. Sie wuschen dem Alten das Gesicht, brachten ihn zurück ins Bett und fragten ihn, ob er ins Krankenhaus wolle. Da fing Hauke vor Entsetzen an zu strampeln, wie er in den letzten achtundsiebzig Jahren nicht mehr gestrampelt hatte und rief nach seinem Hausarzt Harald Golombek. Haralds Auto stand bei Hanke vor der Tür, aber er war nicht da. Das konnte sich niemand erklären, und nun wurde er überall gesucht. In der Praxis war er nicht, zu Hause auch nicht, und seine Sprechstundenhilfe wusste von keinen weiteren geplanten Hausbesuchen. Sein Handy war ausgeschaltet, man war ratlos. Bis dann Elsa, die im Dorf immer das Gras wachsen hörte, auf die Idee kam, doch mal bei Pamela zu klingeln, es könnte doch sein, dass der Herr Doktor ...
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